Stellen wir uns einmal vor, Platon käme am Abend zu uns nach Hause, um unseren Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen, und wir stehen an der Tür und lauschen.
In Platons Geschichte geht es um den Anfang des Philosophierens und darum, wie beschwerlich und schmerzhaft dieser Weg sein kann. Aber auch darum, wie lohnenswert er ist. Platon setzt sich also bequem hin, isst eine Weintraube, und erzählt in etwa folgende Geschichte:
Stellt euch eine Höhle vor, die nach oben hin einen breiten Ausgang hat. Tief unten in dieser Höhle sitzen ein paar Menschen, professionell gefesselt an Schenkeln und Nacken. Die Menschen schauen auf eine Höhlenwand und können sich nicht rühren. Hinter ihnen verläuft eine niedrige Mauer und in einigem Abstand zu dieser Mauer wiederum brennt ein Feuer. Nun gibt es noch andere Menschen in der Höhle, die nicht gefesselt sind und zwischen Mauer und Feuer vom Menschen gemachte Gegenstände herumtragen. Diese Gegenstände ragen über die Mauer und werfen dabei Schatten an die vom Feuerschein erhellte Höhlenwand. Was also die gefesselten Menschen tagein tagaus sehen, sind die Schatten der Gegenstände auf der Höhlenwand, nichts anderes. Würden sie da nicht, da sie ja nichts anderes kennen, diese Schatten für die wirklichen Dinge halten?
Nun stellen wir uns einmal vor, erzählt Platon weiter, einer dieser gefesselten Menschen würde gezwungen, seine Fesseln zu lösen und mühsam den Kopf zu wenden. Und plötzlich müsste er in das Feuer schauen und auch die Menschen und die Gegenstände, die diese Menschen herumtragen, ansehen. Würden ihm da nicht die Augen vom Licht des Feuers schmerzen, und könnte er nicht alles nur ungenau erkennen? Ja, und würde er da nicht ganz schnell lieber wieder zu den Schatten hinblicken? Sicher würde er den matten Lichtschein und die Schatten erst einmal für wirklicher halten als die unscharfen Gegenstände vor dem schmerzenden Licht des Feuers.
Nun, so Platon weiter, denn die Geschichte ist noch nicht zu Ende, stellen wir uns einmal vor, der vormals gefesselte Mensch würde gezwungen, den ganzen weiten Weg zum Höhlenausgang emporzusteigen. Und nach seinem mühsamen Aufstieg gelangt er ans Tageslicht. Was wäre das für ein Schmerz, und welcher Unwille würde sich da in ihm breit machen. Vom Sonnenlicht geblendet, würde er nämlich kein einziges der Dinge erkennen können, die er dort vor Augen hätte. Keinen Baum, keinen Strauch, keinen Menschen, nichts.
Erst nach einiger Zeit würden sich die Augen langsam gewöhnen, und sich die Dinge, Schritt für Schritt, klarer zeigen. Zuerst einmal könnte er schmerzfrei die Schatten betrachten, denn Schatten kennt er ja schon aus seiner Zeit in der Höhle. Danach dann die Spiegelbilder von Menschen und Dingen im Wasser. Und in der Nacht würde er sich den Mond ansehen und die Sterne. Und erst am Schluss - Platon macht eine Pause - erst ganz am Schluss würde er die Sonne am Himmel anblicken können und sehen, wie sie beschaffen ist. Und dann würde er erkennen, dass sie die Ursache der Jahreszeiten und aller Dinge auf der Welt ist. Und das würde ihn sehr glücklich machen.
Dieser Mensch, das ist wohl klar, wird nun nie wieder in die Höhle zurückwollen. Was sollte er auch dort in der Welt der Schatten? Platon zuckt die Achseln. Außerdem ist das viel zu gefährlich, denn wenn er zurückginge, würden die Gefesselten unten in der Höhle ihm keines seiner Worte glauben. Und sollte er versuchen, ihre Fesseln zu lösen und sie den Höhlenaufgang hinauf zu schleppen, würden sie ihn am Ende sogar töten wie unseren Sokrates.
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